Abb. 1 Bakteriengemeinschaft.


Theater als empathische Anstalt

«Es geht darum, wie eine Form von Verbindung von echter Empathie und Intimität auf der Bühne hergestellt werden kann, die über die Machtverhältnisse hinausweist (…). Das macht das Theater heutzutage politisch, dass wir als Körper einander ausgeliefert sind, dass wir für einen Moment die gleiche Luft atmen, dass wir uns in die Augen schauen und verstehen, ‹ecce homo› da ist ein Mensch, und hier ist auch ein Mensch.»
Öziri, Necati (2022): Theater als Empathische Anstalt. In: Sharifi, Azdeh/Lisa Skwirblies (Hg.): Theaterwissenschaft Postkolonial/Dekolonial: Eine Kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld.


Saallicht

Normalerweise hocke ich hier ohne dich. 
Dann verschmelze ich im Dunkeln mit dem roten Sessel und dem Parkettboden. 
Ich werde Teil des Pfauen-Inventars. 
Aus diesem sicheren Versteck treten meine Augen wie Laser hervor und tasten die Körper ab, die sich schutzlos über die erleuchtete Bühne bewegen. 
Heute ist anders. 
Du bist da und erinnerst daran, dass an diesen Augen auch ein Körper hängt. 
Du setzt ihn in Relation zu den anderen Körpern in diesem Raum. 
Ich spüre Verantwortung.  
Körper fragen und Körper antworten. 
Ein fremder Körper neben mir, hält sich am Polster fest. 
Wird langsam weich. 
Lächelt mich an. 
Heute trete ich verändert in die Nacht hinaus. 
In meiner Hosentasche eine Nummer, die ich bald anrufen werde. 

Überarbeitete Feldnotiz Milena Schmid vom 17.03.24.



Abb. 2 Überschneidungen.


Multiple Öffentlichkeiten 

«Ich glaube, das Theater ist ein Beispiel von einem Ort, an dem sehr viele verschiedene Öffentlichkeiten stattfinden können und sollen. Die gängigste Vorstellung ist: Es ist ein Stadttheater und deshalb kommen jederzeit alle zusammen. Und das ist irgendwie nicht so ganz ein zeitgemässes Verständnis davon, wie viele verschiedene Öffentlichkeiten bestehen können und dass es auch gut ist, dass diese bestehen.»

Interview ehemaliger Mitarbeiter Schauspielhaus (anonymisiert), 08.05.24.


Abb. 3: Gleichzeitigkeit.


Schamkörper 

LUKAS:  «Ja verdammt, mit einem freien Arsch durchs Leben gehen! Aber dafür müssen wir uns erstmal den Finger der Scham aus dem Arsch nehmen und uns eingestehen, dass diese angstbesetzten Körper noch immer nicht unsere sind. Ich weiss keine Sprache für diesen Körper. Ich stehe hier in einer Fremdsprache. Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, warum wir hier sind. Aber aus unseren Händen kommen nur Bruchstücke, deren Kanten so versplittert sind, dass sich daraus keine schöne, smoothe, packende, glatt polierte Geschichte bauen lässt. Vielleicht bin ich hier auf der Suche nach einer Fremdsprache, in den Wörtern, die mir zur Verfügung steht.» 

Böhm, Leonie/Helena Eckert und Ensemble (2024): Blutstück (unveröffentlicht). Fassung vom 01.03.24. S.6.



Abb. 4: Körper-Bausatz.


Löcher im Palast 

«Das Stadttheater ist im klassischen Sinne auch ein Palast eines Bildungsbürgertums. Und ich finde, im gegenwärtigen Verständnis von Gesellschaften sollten auch möglichst viel Brücken und Tore und Löcher in diese Mauer geschlagen werden – metaphorisch – damit das Theater eben auch zugänglich ist für andere Gesellschaftsgruppen.» 

Interview ehemaliger Mitarbeiter Schauspielhaus (anonymisiert), 08.05.24.



Abb. 5: Zwischenräume.


Pfauenessen 

«Wenn man das Theater als einen Community-Akt verstehen will, dann frage ich mich, was hat der Raum für eine Funktion? Wie muss man Theater machen? Ich glaube, ich denke dort anders, weil ich vermittlerisch denke und für mich scheiterts dann eigentlich schon daran, wie Theater an sich gedacht wird. Das heisst, ich müsste eigentlich ein Essen machen. Und das fände ich natürlich grossartig! Ich hatte dann so Bilder: Die Bühne des Pfauens würde sich über diese Stühle unten erstrecken und man hätte eine riesige Tafel und alle würden zusammen daran sitzen.» 

Interview Andrea Rickhaus, Kunstschaffende, 20.03.24.



Abb. 6: Der Pfauen als geselliges Varietétheater Ende des 19Jhds mit Tischen und Stühlen im Parkett.


Breaking the spell 

SASHA: 
«We need an alphabet/language that narrates other, hyperreal, utterly needed stories. Our stories with the power of the low, the dark, the earth; the power that arises from our blood, and our lives, and our passionate desire for each other’s living flesh. Like a counterspell. And I want us to tell them/invent them with enough intensity and focus so that we start to believe in them in order to break the spell that binds us to the ‹old/former› alphabet.» 
  
Blutstück 2024, S.20.



Abb. 7: Hegemonie.

Immersion durch Interaktion 

«In jeder Form von Erzählung steckt immer die Möglichkeit oder die Sehnsucht, eine andere Erfahrung zu machen.  Und das geht einher mit dem ‹Auf-sich-zurückgeworfen-sein› im Theater. Ich kann im Theater sitzen und plötzlich darüber nachdenken, was die queeren Anteile in mir sind. Denn ich glaube, dass das Theater das Potenzial hat, darin eine aufregende Erfahrung zu machen mit etwas, das mir selbst unbekannt ist. Dafür braucht es ein offenes Publikum und es braucht Zeit, um sich auf das Unerwartbare einzulassen und damit anzufangen, zu erwarten, dass man nicht weiss, was man bekommt.» 

Interview Helena Eckert, Dramaturgin Blutstück, 22.05.24.


Abb. 8: Affekte.


Neugier

GRO: 
«Wir waren das Urmeer, wir waren 37 Grad warm, körperlos und frei. Es gab eine grosse Hoffnung, aber auch ein grosses Risiko, aber wir waren bereit, es einzugehen. Wir waren bereit, das Risiko einzugehen, Arschlöcher zu haben, in denen Dinge stecken bleiben können, weil das Versprechen so gross war: Das Versprechen auf einen eigenen Körper, sich unterscheiden zu können, eine Identität zu haben, sagen zu können, das bin ich und das bist du, das ist der Raum zwischen uns, hallo. 
(…)
Die Neugier ist die stärkste Kraft von allen, die Neugier kann alles überwinden, scheiss auf die Liebe, die vergeht, Neugier ist viel wichtiger. Also sind wir an Land gegangen und haben Körper bekommen. Wir wurden Grossmeere mit Gliedmassen und sie waren wunderschön.» 
Blutstück 2014, S.9. 



Abb. 9: Schwelle.




Milena Schmid
Affective Publics am Schauspielhaus Zürich 

Abstract
Gegenwärtig geraten Theaterhäuser wie das Schauspielhaus Zürich in bürgerlichen Feuilletons vermehrt in Kritik, zu ‹wokes Theater› zu machen und die Kunst aus den Augen zu verlieren. Dabei ist das Theater immer schon ein politischer Ort gewesen, denn es ist eine Frage von Macht, wer auf der Bühne steht, welche Geschichten erzählt werden und wie sich die dort versammelten Körper zum Publikum verhalten. Im Gegensatz zu einem Habermas’schen Öffentlichkeitsverständnis, das den Fokus auf gemeinsame rationale Entscheidungsprozesse legt, folgt der folgende Beitrag einem Verständnis von Öffentlichkeiten als Affective Publics. Das bedeutet auch, Affekte und Emotionen als wichtige Bestandteile aller sozialer Interaktionen anzuerkennen. Durch die physische Präsenz von Körpern kommt Affekten im Theater eine besondere Bedeutung zu, die wiederum durch das Politische des Theaters zusätzlich relevant ist. Die folgende ethnografische Arbeit hat mit Fokus auf die Inszenierung Blutstück am Schauspielhaus Zürich die Verflechtung der politischen und der ästhetischen Sphäre untersucht und ist der Bedeutung von Affekten bei der Herstellung (politischer) Gemeinschaften nachgegangen. Ausgehend vom Dissens, der rund ums Schauspielhaus herrscht, fragt der Beitrag zudem, was uns das Konflikthafte über Theatergemeinschaft und Öffentlichkeiten im Allgemeinen erzählen kann.



Keywords
#Affective Publics #Anti-Genderismus #Radikaldemokratie #Safer Space #Theateröffentlichkeiten


Zitiervorschlag:

Schmid, Milena (2024): ⁠«Affective Publics am Schauspielhaus Zürich.» In: Chakkalakal, Silvy/Schmid, Milena/Andrea-Luca Bossard (Hg.): New Publics. Ästhetisch-kollaborative Vernetzungen zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeiten. URL: https://new-publics.ch/schmid



Das Teilen von Raum und Zeit Am 17. Januar 2024 wurde im Berliner Ensemble die Szenische Lesung Geheimplan gegen Deutschland aufgeführt. Die Inszenierung bearbeitet die wenige Tage zuvor veröffentlichte investigative Reportage des Medienhauses Correctiv, die ein Treffen Rechtsextremer in Potsdam im November 2023 enthüllte.[1] Ich schaue mir die Aufzeichnung daheim an und sehe darin die gesellschaftspolitische Relevanz des Theaters und das Potenzial der gegenseitigen produktiven Beeinflussung, wenn sich die künstlerische und die politische Sphäre aktiv ineinander verweben. Es gibt meines Erachtens nicht viele öffentliche Orte, an denen Menschen physisch zusammenkommen, um gemeinsam über aktuelle, politische Themen nachzudenken. Diese Aufführung ist so beachtlich, weil sie zeigt, dass Theater ein solcher Ort sein kann. Das gemeinsame Teilen von Raum und Zeit ist eine Qualität des Theaters. Theater erfasst uns affektiv, das heisst, dass es unmittelbar auf unsere präsenten Körper einwirkt und spezifische Gefühle hinterlässt. Schon manch gelungener Theaterabend hat mich affektiv berührt und gleichzeitig Fragen über unser gesellschaftliches Zusammenleben aufgeworfen. Beim Nachdenken über Öffentlichkeit(en) und demokratische Teilhabe war für mich naheliegend, für die Bearbeitung dieser Themen das Theater in den Fokus zu rücken und dabei der Frage nachzugehen, welche Rolle Affekte und Dissens bei der Bildung einer politischen (Gegen-)Öffentlichkeit spielt. Die Ergebnisse dieser Forschung werden in 10 kurzen Abschnitten präsentiert und von einer zweiten Bild- und Zitatebene begleitet. 



Politische Theateröffentlichkeit(en)Für die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe (2005) ist Kunst dann politisch und stellt die dominante Hegemonie in Frage, wenn sie Konfrontation herstellt, wenn sie Dissens fördert, Co-Existenzen ermöglicht und sichtbar macht, was der dominante Konsens zu verschleiern versucht. Hat man während der letzten 5-jährigen CO-Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg die mediale Diskussion rund ums Schauspielhaus Zürich verfolgt, scheint es naheliegend, Mouffes Hegemoniekonzept auf die Gespaltenheit rund um das «House of Wokeness»[2] anzuwenden (für weitere Ausführungen zur Schauspielhaus-Debatte siehe auch David Jäggis Beitrag «Das Pfauenfoyer 2019–2024: Transformationsraum zwischen alltäglicher Gestaltung und politischer Kunst.») Während meiner Feldforschung, die auf das letzte halbe Jahr der Co-Intendanz gefallen ist, wurde jedoch immer deutlicher, dass diese agonistische Einteilung in wokes Theater und bürgerliche Kritik der Vielfalt und Komplexität der Theateröffentlichkeiten nicht gerecht wird.[3] Um über das Schauspielhaus nachzudenken, bot es sich mir stattdessen an, mich auf den Berliner Theaterwissenschaftler Matthias Warstat zu beziehen. Er spricht sich mit Bezug auf seinen neuseeländischen Kollegen Christopher Balme für ein antikes und breiteres Verständnis von agon aus, das jede Handlung umfasst, die im öffentlichen Raum stattfindet (in Abgrenzung zum privaten Raum). So gesehen ist Theater immer politisch und es lässt sich eher fragen, wie es passiert, dass Theater manchmal als Privatvergnügen gesehen werden kann. Warstat bezeichnet Theateröffentlichkeiten im Plural und sieht diese stark verwoben mit anderen Öffentlichkeiten (Warstat 2023). Wie die Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin Nora Sternfeld schreibt, lernen wir auch von unterschiedlichen Gegenöffentlichkeiten, die sich aus (queer-)feministischen oder postkolonialen Kämpfen gegen eine dominante Scheinöffentlichkeit gebildet haben, Öffentlichkeiten multipliziert zu denken. In dieser Segmentierung besteht aber laut Sternfeld gleichzeitig die Gefahr, dass wir in Zuschauer:innengruppen unterteilt und infrastrukturell ökonomisch nutzbar gemacht werden (Sternfeld 2023). Die Schwierigkeit, gleichzeitig Pluralität/Diversität anzustreben, sich darin aber nicht spalten zu lassen, also trotzdem eine relationale Gemeinschaft zu bilden, ist mir während meiner Forschungszeit auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder begegnet.


Spannungsfeld der Pluralität Das Blutstück ist eine Bühnenadaption des Blutbuchs der non-binären Person Kim de l’Horizon, die Leonie Böhm in der Spielzeit 23/24 zusammen mit der Autor:in und dem Ensemble umgeschrieben und auf die Hauptbühne des Schauspielhauses, den Pfauen, gebracht hat. Ich habe diese Inszenierung in den Fokus meiner Forschung gerückt, da darin mit der Frage experimentiert wird, wie an einem Theaterabend Gemeinschaft entsteht. Gemeinschaft ist der Begriff, der im Blutstück verwendet wurde, im Deutschen aber nicht unproblematisch ist. So wird der Begriff beispielsweise von identitären Gruppierungen gebraucht, um auf eine homogene Volks- oder Abstammungsgemeinschaft zu verweisen. Am Ende des Blutstücks wird von einer Bakteriengemeinschaft gesprochen, um zu benennen, was für eine Gemeinschaft an diesem Abend möglicherweise entstanden ist und damit auf eine universellere Form von Gemeinschaft verwiesen, die alle Lebewesen miteinander verbindet. Während den Aufführungen war zu beobachten, wie sich ein grosses Spannungsfeld aufgetan hat zwischen dem Wunsch, mit dem Publikum in eine Gemeinschaft zu kommen und dem gleichzeitig wiederkehrend anklagenden Ton, den die queeren Bühnenfiguren gegen alte weisse Männer aus dem Publikum richteten. Es lässt sich sagen, dass es dabei um die Frage geht, mit wem wir bereit sind, eine Gemeinschaft einzugehen und wen wir vom demokratischen Diskurs ausschliessen. Denn auch in einem radikalen Demokratieverständnisses, das Mehrstimmigkeit befürwortet, kann es Positionen geben, die ausgeschlossen werden (sollen) und zwar dann, wenn sie selbst die Existenz gegnerischer Parteien verneinen (Mouffe 2005). Dies ist beispielsweise der Fall bei einem Anti-Genderismus, der den kriegerischen Begriff Kulturkampf verwendet, um auf die angebliche Gefahr der Genderist:en hinzuweisen und sich dies als rechte Propaganda für anti-demokratische Zwecke zunutze macht (Graff und Korolczuk 2021). Dass vor diesem Hintergrund an einem Theaterabend Anti-Genderismus adressiert und deren Vertreter:innen zu einem gewissen Grad auch vom demokratischen Gemeinschaftsprojekt ausgeschlossen werden will, ist nachvollziehbar. Dass dies im Stück jedoch durch die Adressierung einzelner Personen aus dem Publikum geschieht, die als alte weisse Männer gelesen werden, wirkt einerseits pauschalisierend und andererseits entspricht es einer Logik, gegen die im Stück eigentlich angegangen werden soll: Dass Personen aufgrund von Äusserlichkeiten markiert und einer Gesellschaftsgruppe zugeordnet werden. 



Affective Publics Bis ins 19. Jahrhundert war der Publikumsraum des Theaters erleuchtet, was ein geselliges Miteinander der Zuschauer:innen zufolge hatte. Durch die Abdunklung des Raumes wurde der Fokus auf das Bühnengeschehen und dessen affektive Erfahrung gelenkt, was den Zuschauenden ein intensives persönliches Erleben ermöglichte. Jedoch verlor das Theater seinen geselligen Charakter und die Zuschauenden blieben mit ihrer Erfahrung allein, da sie in der Dunkelheit das Erleben des restlichen Publikums nur noch erahnen und nur noch schlecht eine Beziehung zu den anderen Körpern im Raum aufbauen konnten (Fischer-Lichte 2003).
Der Publikumsraum beim Blutstück ist fast während der ganzen Vorstellung beleuchtet, was mir das Beobachten und das Schreiben meiner Feldnotizen erleichtert. Ich sehe nasse Wangen und Blicke, die sich liebevoll kreuzen, Hände, die sich auf benachbarte Oberschenkel legen, einen Fächer und ein Halstuch in Pride-Farben. Ich sehe Körper, die steif in ihren Sesseln hocken, die während der Vorstellung den Saal verlassen oder beim Schlussapplaus demonstrativ das Klatschen verweigern. Die relationale Affektivität, in der wir die Welt erfahren und wie wir auf diese Eindrücke reagieren, ist gesellschaftlich bedingt. Durch bestimmte Emotionen in spezifischen Konstellationen (oder Figurationen) werden die Grenzen zwischen unserer Subjektivität und der Welt hergestellt, sie entscheiden, ob wir aufeinander zugehen oder ob wir uns voneinander wegbewegen (Ahmed 2004). 
Das Theater ist ein Raum, in dem sichtbar wird, wie das Private und das Politische miteinander verwoben sind und werden. Im Theater (als öffentlicher Raum) zu weinen oder sich zu echauffieren, ist gleichzeitig eine sehr intime wie auch politische Angelegenheit. Diese Trennung zwischen Privatem und Politischem, die in den Gender Studies schon länger infrage gestellt wird (das Private ist politisch), wird auch in den verwandten Affect Studies kritisch betrachtet, da Affekte immer schon beide Sphären in sich tragen. Die scharfe Grenze zwischen Emotionalität und Rationalität ist in Frage zu stellen und insbesondere in der Politik müssen Affekte als wichtiger Bestandteil anerkennt statt abgewertet werden (Bens 2019; Lünenborg und Röttger-Rössler 2023). Es ist die Vermischung dieser Sphären und das gemeinsame affektive Erleben, wodurch Theateröffentlichkeiten zu Affective Publics werden.



Hegemoniale Emotionsregime  Emotionen spielen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung hegemonialer Gesellschafts- und Geschlechterverhältnissen. Emotionswelten müssen in ihrer Historizität als Disziplinierungsmechanismen und Elemente des hegemonialen Emotionsregimes verstanden werden (Maihofer 2014). Politische Gruppierungen haben ihre entsprechenden unterschiedlichen Emotionsrepertoires und sind darauf angewiesen, dass diese Repertoires ihre stabilisierende Kraft beibehalten (Nussbaum 2018).
Im Blutstück nimmt das Sprechen über Körper und Scham bei den queeren Bühnenfiguren eine wichtige Rolle ein. Die Scham kann als Teil eines hegemonialen Emotionsregimes gesehen werden, der für die Stabilität der dominanten Gruppierung bedeutend ist.[4] Das Sprechen über Scham und deren Transformation im Blutstück kann als eine queer-feministische Praxis verstanden werden, die sich gegen diejenigen richtet, die diese Körper beschämen. Deren Angegriffenheit zeigt sich dann beispielsweise in Rezensionen, die die Ausführungen der Bühnenfiguren beispielsweise als «analfixiert» bezeichnen.[5] An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass das Schauspielhaus und insbesondere die Pfauenbühne in einer bürgerlichen Tradition steht und ihre eigenen Verhaltenscodes hat (die natürlich auch schon von vorangegangenen Intendanzen infrage gestellt wurden). Das Theater in seiner bürgerlichen Tradition ist auch ein Ort der Disziplinierung und der Ausschluss einer vulgären Sprache kann dort genauso dazugehören, wie ein gewisser Kleidungsstil oder das rechtzeitige Erscheinen am Theaterabend. Durch die Disziplinierung soll der Status Quo aufrechterhalten werden, der sich beispielsweise von queeren Lebensweisen auf der Bühne bedroht sieht. Indem neue Theateröffentlichkeiten auf der Bühne über ihre Scham und «die ganze Scheisse in unseren Adern» sprechen, wie dies beim Blutstück der Fall ist, stellen sie diese bürgerlichen Codes in Frage. Ebenso sind Verhaltensweisen des Publikums zu deuten, die aus Erzählungen des Garderobenpersonals hervorgehen: Zuschauer:innen, die erst eine Minute vor Vorstellung das Theater betreten und an der Garderobe vorbeispazieren, ohne daran zu denken, ihre Jacken und Taschen dort wie erwartet abzugeben. Dies sind meines Erachtens subversive Praktiken neuer Öffentlichkeiten, die das Selbstverständliche erst sichtbar machen und herausfordern.



Die Autonomie der Kunst  Eine Stimme am Publikumsgipfel des Schauspielhauses äusserte: «Ich will wieder gute Theaterstücke sehen, so wie sie der Autor sich gedacht hat und nicht irgendwelchen dekadenten Klamauk.»[6] Dies ist ein Argument, das rund um die Schauspielhaus-Debatte sehr oft zu hören war. Es ist kein neues Argument, denn letztlich ist es eine Frage nach der Autonomie der Kunst: Kunst müsse für sich stehen und solle keinen (politischen) Zielen unterworfen sein, also nicht heteronom sein. Es wird suggeriert, dass das Theater erst jetzt mit dem Wechsel der Intendanz politisch geworden ist und davor ein neutraler Ort war, an dem schlichtweg «gute» Kunst konsumiert werden konnte. Dabei wird vergessen, dass viele dieser Klassiker, «so wie der Autor sie sich gedacht hat» durchdrungen sind von sexistischem, rassistischem und anderweitig diskriminierendem Gedankengut. Solange dieses Gedankengut den dominanten Konsens bildet, können solche Klassiker als apolitische Stücke behandelt werden. Dafür, Kunstwerke auch dann noch als Kunst zu bezeichnen, wenn sie klare politische Gegenspieler adressieren, plädiert etwa der österreichische Philosoph und Soziologe Oliver Marchart (2012) mit dem Begriff der Heteronomieästhetik.
Neben dem Umstand, dass soziale Handlungen theoretisch immer als politisch betrachtet werden können, hat die Kunstform des Theaters noch eine weitere wichtige Eigenschaft, die sie zu einem politischen Ort macht: Durch das gemeinsame Teilen von Raum und Zeit begegnen wir uns im Theater immer als Körper und diese Körper sind immer schon in Machtverhältnisse eingebettet (Öziri 2022). Die deutsche Kultursoziologin Sophia Prinz (2022) vertritt einen Ansatz, der die Autonomie und Heteronomie der Kunst in sich vereint und der sich auch für meine Arbeit anbietet: ein Verständnis der relationalen Autonomie. Das Material, mit dem sich die Kunst beschäftigt, entspringt unseren gesellschaftspolitischen Kämpfen und beschränkt somit die Autonomie der Kunst. Gleichzeitig, ermöglicht die Kunst, neue Perspektiven auf diese Alltagsverhältnisse zu werfen und bietet uns einen Freiraum, uns anders zu ihnen zu verhalten. 



Vulnerabilität und Safer Spaces Die Machtverstrickungen zwischen verschiedenen Körpern zeigen sich eindrücklich an der Szene im Blutstückin der Kim erzählt, dass Kim beim Verlassen des Hauses eigentlich immer Angst davor habe, angegriffen zu werden. Der Hass gegen queere Menschen ist eine reale Bedrohung, vor der Kim auch auf der Pfauenbühne nicht sicher sein kann. Aus diesem Grund gibt es diese Szene im Stück, in der Kim das Parkett betritt, um dort nach einer Person aus dem Publikum zu suchen, die sich bei einem Angriff mit Kim verbünden würde (für weitere Ausführungen zur Gefahr, die das Sichtbarsein für queere Personen birgt, siehe auch Daria Joos Beitrag «Queere Kultur im Spannungsfeld öffentlicher (Un)Sichtbarkeit.») In dieser Szene werden zwei Dinge ersichtlich: Einerseits die Zweideutigkeit von Vulnerabilität und andererseits die Bedeutung von Safer Spaces in öffentlichen Räumen. Kim versucht, sich in dieser Theateröffentlichkeit einen Safer Space zu schaffen, da queere Körper in unserer Gesellschaft in einem grösseren Masse vulnerabel sind als nicht-queere Körper. Gleichzeitig hat Vulnerabilität aber immer auch eine allgemeine Komponente als Grundbestimmung des Lebens (Butler 2005), wodurch die Bezugnahme auf die Vulnerabilität in diesem Stück als verbindendes Element zwischen allen anwesenden Körpern gesehen werden kann. Dies wird zusätzlich dadurch bestätigt, dass sich bei dieser Inszenierung nicht nur das Ensemble auf der Bühne verletzlich macht, sondern dass sich in gewisser Weise auch das Publikum durch das Saallicht und die Interaktionen mit dem Ensemble in einem vulnerablen Zustand befindet. Dies ist sinnbildlich für das Verhältnis von Vulnerabilität und Schutz und lässt fragen, ob nicht immer ein Risiko bestehen bleibt, verletzt zu werden, wenn Menschen in ihrer Differenz zusammenkommen. Aus diesem Grund wird in queer-feministischen Räumen auch von Safer Spaces anstatt von Safe Spaces gesprochen. 



Unbequeme Öffentlichkeiten  Meine Frage an Theaterbesucher:innen, ob es dem Blutstück jeweils gelungen ist, aus den Menschen, die sich für einen Theaterabend versammelten, eine Gemeinschaft zu bilden, wurde oft verneint. Beispielsweise mit der Begründung, dass die Publikumsinteraktionen und spezifisch die plakative Adressierung alter weisser Männer für Unbehagen gesorgt haben. Demnach kann in einem Raum nicht gleichzeitig ein Dissens zu Sprache kommen und eine Gemeinschaft behauptet werden, was mich fragen lässt, was wir für eine Vorstellung von Gemeinschaft und somit auch von Öffentlichkeiten haben. Wenn wir erst von Gemeinschaft sprechen, wenn wir uns in einem Raum befinden, in dem es kein Unbehagen mehr gibt, verneinen wir dann nicht die Pluralität unserer Gesellschaft? In einem radikalen Demokratieverständnis, in dem von einer pluralistischen Gesellschaft ausgegangen wird, ist der Dissens ein Zeichen dafür, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse weniger ausgeprägt sind und infolgedessen plötzlich Stimmen zu hören sind, die davor vom herrschenden Konsens übertönt wurden (El-Mafaalani 2020). Demnach sind Öffentlichkeiten auch unbequeme Räume, in denen entgegengesetzte Meinungen und ein breites Repertoire an Affekten Platz haben. Es kann eine Herausforderung sein, dieses Spannungsfeld der Pluralität auszuhalten, da es hierbei schliesslich um die Subjektwerdung geht, also um die Frage, wo Ich aufhöre und wo Du anfängst. 



Empathische Neugier Im Blutstück ist es die Neugier, die eine Möglichkeit bietet, sich in diesem Spannungsfeld einzurichten. Sie setzt voraus, dass die eigene Lebenswelt gekannt wird und gleichzeitig etwas als fremd wahrgenommen und in seiner Andersartigkeit anerkannt werden kann. Dieser Affekt der Befremdung ist mir während meiner Feldforschung an unterschiedlichen Stellen begegnet: Der Theaterabend löste beispielsweise bei Besuchenden Neugier auf queere Lebenswelten aus und liess sie die eigene Lebensweise hinterfragen. Die Neugier entzieht sich in diesem Fall dem hegemonialen (heteronormativen) Gefühlsregime, ohne dass dies allgemein für die Neugier geltend gemacht werden könnte. Denn die Neugier hat auch eine koloniale Geschichte, die ebenfalls eine Kritik an der eigenen Gesellschaft beinhaltete. Ein wichtiger Antrieb der kolonialen Mission war unter anderem die westliche Neugier und die damit verbundene Suche nach dem Fremden und Authentischen in anderen Gesellschaften. Im Blutstück funktioniert die Neugier als empathische Figur der Verbindung zwischen dem Ich und dem Du, wobei mit Empathie gemeint ist, was Öziri in seinem Aufsatz Theater als emphatische Anstalt beschreibt: «Empathie ist hier als ein ‹In-Sich-Platz-Schaffen› gedacht: ‹Ich gebe in mir Raum, damit du hineinkommst und meine Wahrnehmung veränderst.› Und damit ist sie das Gegenteil von Okkupation und das Gegenteil von Grenzziehung und Besetzung» (Öziri 2022, S.170). Mit dieser Anerkennung der Andersartigkeit wird eine wichtige Voraussetzung für eine radikaldemokratische Gesellschaft beschrieben. 
Theateröffentlichkeiten wurden in diesem Beitrag als multipel konzipiert und Dissens in einem radikaldemokratischen Sinn nicht als problematisch, sondern als Zeichen einer funktionierenden Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft gesehen. Neben all der Institutionskritik, die durchaus ihre Berechtigung hat, ist gerade jetzt, wo von einem europaweiten Rechtsrutsch gesprochen werden kann, wichtig, dass diese Institutionen ihr demokratisches Potential – sprich ihre öffentlichkeitsmachende Kraft – nicht verlieren. Auch wenn das Theater ein Kunst-Raum ist, der selbst nicht radikaldemokratisch funktioniert, weil nicht die ganze Gesellschaft daran teilhaben kann und der politische Einfluss eines Theaters Grenzen hat, ist es dennoch ein Raum, der mit anderen Öffentlichkeiten verbunden ist und in dem Menschen affektive Erfahrungen machen, durch die sie die gesellschaftlichen Verhältnisse neu betrachten und sich die Möglichkeit eröffnet, sich anders zu ihnen verhalten zu können. 



Abschied  Am 07. Juni 2024 sitze ich im Rahmen des Abschlussfestivals der Co-Intendanz im Pfauen. Es ist eine von vielen Veranstaltungen dieses Festivals, bei dem in verschiedenen Formaten immer wieder die Sphären zwischen Zuschauer:innen und Mitgliedern des Hauses vermischt und dadurch die Verflechtung von Theateröffentlichkeiten sichtbar werden. Ich bin Teil dieser Öffentlichkeit und bezeuge an diesem Abend, wie sich einzelne Schauspieler:innen, die das Haus zusammen mit den Intendanten verlassen werden, auf einer improvisierten Bühne im Publikumsraum voneinander verabschieden. An diesem Abend verdichtet sich für mich noch einmal die politische Kraft des Theaters: Körper, die aufeinandertreffen, sich berühren und berühren lassen, teilhaben, widersprechen, einen Weg finden, wieder auseinandergehen, Platz schaffen für neue Körper.



Endnoten:

[1] Szenische Lesung Geheimplan gegen Deutschland. Aufgerufen am 27.06.24.

[2] Schauspielhaus Zürich: House of Wokeness. Abgerufen am 27.6.2024. (Link funktioniert nicht mehr, da die Seite offenbar vom Schauspielhaus geändert oder entfernt wurde.)

[3] Ich möchte mich bei Helena Eckert, Andrea Rickhaus und bei allen weiteren Gesprächspartner:innen, die nicht namentlich genannt werden wollten für den wertvollen Austausch bedanken, der an vielen Stellen in diese Arbeit eingeflossen ist.

[4] Die Transformation von Scham zu Stolz (Pride) war beispielsweise ein wichtiger Aspekt in der ACT UP-Bewegung wie aber auch in vielen weiteren sozialen Bewegungen (Graff und Korolczuk 2021).

[5] NZZ Blutstück am Züricher Schauspielhaus Aufgerufen am 28.06.24.

[6] Schauspielhaus Zürich Publikumsgipfel. Aufgerufen am 23.01.24. (Link funktioniert nicht mehr, da die Seite offenbar vom Schauspielhaus geändert oder entfernt wurde.)



Literatur: 

Ahmed, Sara (2004): Collective Feelings: Or, the Impressions Left by Others. In: Theory, Culture & Society 21/2, 25-42.

Bens, Jonas (2019): The Politics of Affective Societies: An Interdisciplinary Essay. Bielefeld.

Butler, Judith (2005): Gewalt, Trauer, Politik. In: Judith Butler (Hg.): Gefährdetes Leben: Politische Essays. Frankfurt a. M., 36-68.

Böhm, Leonie/Helena Eckert und Ensemble (2024): Blutstück (unveröffentlicht). Fassung vom 01.03.24.

El-Mafaalani, Aladin (2020): Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln.

Fischer-Lichte, Erika (2003): Es werde Licht! Wissenschaftsmagazin Fundiert. Aufgerufen am 14.06.2024.

Graff, Agnieszka/Elżbieta Korolczuk (2021): Anti-Gender Politics in the Populist Moment. London. Aufgerufen am 10.09.2024.

Lünenborg, Margreth/Birgitt Röttger-Rössler (2023): Affective Publics and Their Meaning in Times of Global Crises. In: Affective Formation of Publics: Places, Networks, and Media. London.

Maihofer, Andrea (2014): Sarah Ahmed: Kollektive Gefühle - Elemente eines Westlichen Hegemonialen Gefühlsregime. In: Angelika Baier u. a. (Hg.): Affekt und Geschlecht: Eine Einführende Anthologie. Wien, 253-272.

Marchart, Oliver (2012): Für Eine Neue Heteronomieästhetik. Überlegungen zu Kunst, Politik und Stadtraum im Anschluss an Jacques Rancière, Dan Graham, Alfredo Jaar und Colectivo Situaciones. In: Dietmar Kammerer (Hg.): Vom Publicum. Bielefeld.

Mouffe, Chantal (2009): Which Public Space for Critical Artistic Practices? Aufgerufen am 14.06.2024.

Nussbaum, Martha Craven (2018): The Monarchy of Fear: A Philosopher Looks at Our Political Crisis. New York.

Öziri, Necati (2022): Theater als Empathische Anstalt. In: Sharifi, Azdeh/Lisa Skwirblies (Hg.): Theaterwissenschaft Postkolonial/Dekolonial: Eine Kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld.

Prinz, Sophia (2022): Relative Autonomie: Zur Sozialen Funktion Ästhetischer Formen. In: Eusterschulte, Brigit/Christian Krüger (Hg.): Image. Bielefeld. 61-82.

Sternfeld, Nora (2023): Kuratorische Öffentlichkeit unter Infrastrukturellen Bedingungen. In: Jung, Simone/Victor Kempf (Hg.): Entgrenzte Öffentlichkeit: Debattenkulturen im Politischen und Medialen Wandel. Bielefeld.

Warstat, Matthias (2023): Agon als Konflikt. In: Ulf Otto u. a. (Hg.): Theaterwissenschaft Postkolonial, Intermedial, Neoinstitutionell: Christopher Balme in der Re-Lektüre. Bielefeld. 117-135.



Abbildungs- und Materialverzeichnis:

-Abb. 1,4,7,9 Digitalfotografie: Milena Schmid, aufgenommen bei einer öffentlichen Führung durch den Schiffbau am 06.03.24.

-Abb. 2,3,5,6,8 Digitalfotografie: Milena Schmid, aufgenommen bei einer öffentlichen Führung durch den Pfauen am 12.03.24.


-Interview Andrea Rickhaus, Kunstschaffende, 20.03.24.

-Interview ehemaliger Mitarbeiter Schauspielhaus (anonymisiert), 08.05.24.

-Interview Helena Eckert, Dramaturgin Blutstück, 22.05.24.


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